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Die Buntpapiermacher

Zu acht fanden wir uns am Samstag, den 11. Januar 2025 in den Räumen von hochdruckpartner Galerie + Werkstatt in Leipzig zusammen, um gemeinsam Buntpapier herzustellen. Bettina Mönch als Buchbindemeisterin führte uns in die Techniken von Knitter-, Kleister- und Öltunkmamorpapier ein. Einige Fotos von diesem Tag und ein Essay aus dem Jahr 1987 beschreiben das seltene Handwerk.

Fotos: Ilka Zoche

Text: Horst Drescher (Essay aus: Leipziger Blätter Nr. 10, Frühjahr 1987, Seite 24–30)

Seltenes Handwerk – Der Regenbogenpapiermacher

In einem Vorort, einem der vielen zersiedelten gesichtslosen Vororte im Norden der großen Stadt Leipzig konnte man bis in die Spätherbsttage des Jahres 1982 hinein einer der merkwürdigsten Handwerkerexistenzen Europas begegnen; denn der letzte Marmoriermeister war berühmt und ganz unbekannt zugleich, eine wahrhaft bemerkenswerte Existenz. Dort im Wolffswinkel, einem etwas vergessenen, auch etwas verkommenen, aber im Sommer recht idyllischen Dorfreste zwischen einer Schrebergartenkolonie an der Elster und der Fernverkehrsstraße nach Halle, steht seine Werkstatt, ein massiver geräumiger Schuppen mit schönen Fenstern, Fenstern eines Schlößchens, die waren aber meistens von gespritzter Farbe blind. Über dem Eingang hängt noch heute ein Schild »Papierveredelung Gerh. Hesse«. 

 

Wer Gerhard Hesse auf seinen täglichen Wegen zwischen Werkstatt und Haus getroffen hat, der hat ihn wohl für einen Arbeiter von einer nahen Baustelle gehalten, Hesse ging immer in seinen Arbeitsklamotten; nur ein gewisser wacher beobachtender Blick hinter der Brille hätte einen Fremden aufmerken lassen können. Aber mehr als einen Dank auf seinen Gruß hatte er nicht zu erwarten. Hesse redete nicht viel, mit Fremden schon gar nicht, Hesse war ein Skeptiker; das Leben hatte ihm das beigebracht. 

 

Es mag ums Jahr 1965 herum gewesen sein, als ich ihn, vom Ruhme seiner zauberhaften Papiere angelockt, das erste Mal besucht habe; ich wollte diesem Zauberer seiner Handwerkskunst bei der Arbeit zusehen. Angetroffen aber habe ich einen freundlich-mißtrauischen Mann in mittleren Jahren, er hatte gerade in der Vorhalle zur Werkstatt einen alten Ford auseinandergenommen, bis aufs Fahrgestell, bis auf den Rahmen; der Holzwurm war in der Karosserie, und so war das ganze Auto. Familie Hesse wollte damit in Urlaub fahren. Und was die Bewunderung seiner Handwerkskunst betraf, so schien das Interesse ganz einseitig zu sein. Er schob die Matte mit seinem Werkzeug bald wieder unter den Wagen und sich hinterher. Der Besuch war beendet. Darüber haben wir später noch oft gelacht. »Was wußte ich denn, wen sie mir da wieder uff den Hals schicken!« Das war Hesse.

 

Was ist denn nun aber das eigentliche Marmorieren, diese Zauberei, so oft beschrieben und niemals recht erklärt. Also das Marmorieren wird folgendermaßen gemacht: Auf einem eisernen Ofen kocht in einem großen Topfe eine gelblichgraue Pampe, die muß immer mal geprüft werden beim Umrühren, auf ihre Konsistenz. Das ist isländisches Moos oder irisches Moos, oder von welchen nördlichen Inseln das getrocknete Flechtenzeug immer kommen mag. Der Sack steht neben dem Ofen, und nur Hesse weiß, wie lange das kochen muß und was man alles reintun muß, damit es guter »Grund« wird, wenn am Ende die Pampe durchgeseiht ist, ein guter »Marmoriergrund«. Ich weiß nur, daß es stundenlang kochen muß und wie es stinkt. Aber so was darf einen Marmorierer nicht stören, daran darf er sich nicht stoßen, würde Hesse sagen. Das ist der Beruf. 

Dazu muß man viel vor sich hinschimpfen beim Probieren und Herumprobieren. Über den »Grund« muß man schimpfen, über die Pinsel, übers Öl, übers Papier, dieses ScheißPapier wieder mal, vor allem aber über die Farben, wie die alle nischt taugen und so; und daß eben wieder mal nischt klappt. Diese Zutat muß eine ganz wesentliche Zutat sein, denn Hesse hat unnachahmliche Papiere gemacht. Das sind die Grundlagen der Marmorier-Kunst. Eines kann ich ja noch verraten: Die feinen weißen Muster, das sind ursprünglich Wassertröpfchen, nichts als Wassertröpfchen! Aber das will gekonnt sein; unter den Händen eines Marmorierers nur, ist Wasser eine solch delikate Farbe. 

Nichts ist dann einfacher, als mit dem farbegetränkten Pinsel drei bis vier Mal leicht auf den Handrücken zu schlagen, und schon sprühen paarhundert feine Farbtröpfchen über die Fläche der Marmorierwanne; und das muß nun mit jeder Farbe gemacht werden. Falls man es selber probiert, sind es eben nur dreißig, vierzig Tropfen, davon sind einige sehr groß, und fein verteilt sind sie auch nicht. Aber ein eigentliches Talent ist dazu nicht nötig, erklärt einem der Meister, man muß es nur paar Jahre lang machen von früh bis abends; es ist nur eine Übungssache. Ganz am Ende, wenn mit den Kämmen die Muster gezogen sind, oder mit der Stachelschweinborste, dann legt er behutsam einen Bogen auf, ebenso behutsam hebt er ihn wieder ab; die Farbe saugt sich von selber an. Dann kommt der Bogen über einen Stab, wird im tiefen Becken abgewaschen und danach mit geübtem Schwung unter die Decke befördert aufs Trockengerüst zu all den anderen Bogen, die da hängen. Unter der Werkstattdecke sieht es aus wie auf dem Boden einer Papiermühle, einer mittelalterlichen Papiermühle.

 

Besieht man sich aber nach dem Trocknen die selbstgemachten Bogen mal genauer, sie haben alle feine Weilen quer durch die Farben; und man hatte sie doch so ganz besonders behutsam aufgelegt und abgehoben. Da lächelt Hesse: »Die können wir gleich wegschmeißen.« 

Stunden hat es gegeben in seiner Werkstatt, sein Marmorieren kam mir wahrhaft vor wie Zaubern mit Farben! Für den Pfauen-Marmor hatte er sich einen Kamm gebaut, der gestattete, bei der Längsbewegung auch noch einen Kamm in Querrichtung zu bewegen, so kamen bei jeder Querbewegung ein Dutzend kleiner Farbenstrudel aus dem Streifen gequollen, hundert kleine Pfauenschweife auf einem Bogen, eben »Pfauen-Marmor«. Das Bezugspapier der Merian-Bände. 

Paletten von Grün auf zartem Lindgrün, Hesses Goldgrün, sein Kupfergrün, sein Schwarzgrün! Farbige Grautöne, wie sie der Himmel trägt vor Unwettern, – nein, wie sie nicht mal der Himmel trägt. Tüll von Farben! Pastelltöne, wie feine Farbschuppen schieben sich da Ton in Ton zu farbigen Eisblumen niemals gesehener Schönheit. Oder er klöppelte mit der Stachelschweinborste Muster durch die feingeäderten Farbflecken, in sich feinverschlungene Linienbündel, und jedesmal zog er breite Schweife hervor, traumhaft schöne japanische Fächer. 

Was ein paar Tröpfchen Schwarz in dem Farbgefüge machen, wenn sie sich zu einem spinnwebigen Netz ausbreiten übers ganze Farbenspiel; wie überhaupt die verschiedenen Treibmittel die Farben so verschieden quellen lassen und sich bewegen. Mosaiks aus lustigen bunten Tropfen und Tröpfchen, feine und feinste Farbenfädchen im Dutzend beieinanderlaufend, weiße und schwarze Spinnwebnetze im Ziegehot: Tausendundeinenacht-Welt! 

Marmorieren ist ein Druckverfahren auf flüssigem Druckstock; aus dem Orient soll es gekommen sein, vor einem halben Jahrtausend, die Farben sprechen für diese Vermutung. 

Der Handwerker Hesse hat so manchen berühmten Namen der gegenstandslosen Kunst in den Schatten gestellt, und ganz ahnungsloserweise; denn das war nur Spielerei in seinen Augen. Prachtvolle Bogen wanderten mit den Bündeln der abgeschnittnen Streifen, marmorierte Bogen haben stets einen unregehnäßigen und unsauberen Rand; das kam alles zusammen als nasse Papierhaufen auf den Zaun des kleinen Gartens hinter der Werkstatt. Zum Trocknen, es mußte ja wieder Grund gekocht werden auf dem eisernen Ofen. 

 

Die Marmorierkunst besteht eben darin, einen Bogen wie den anderen zu machen, und zwar nach einem Musterbogen, nach einer Vorlage. Über alle 400 Bogen hin, einer so nahe wie möglich ähnlich den anderen 399 Bogen, wenn der Auftrag über 400 Bogen lautet. Handwerk. Friedrich Hesses Sohn spricht da, der Sohn des Handwerksmeisters. 

Bitter könnte man werden in der Erinnerung, welche einmaligen Farbenspiele entstanden sind auf einem Bogen, sie wanderten als zusammengeknüllte nasse Lappen aufs Fußrost; er hatte nur was ausprobiert. 

Die Augen der Menschen, denen man so einen Bogen schenken kann! Ein paar Dutzend solcher Spielereien habe ich ihm ja entlockt im Laufe der Jahre, der Grundstock meiner Hessepapiere-Sammlung. Die größten Schwierigkeiten hatten wir immer, wenn wir Initialen hineinarbeiteten, die mußte man spiegelverkehrt hineinschreiben! Die Rückseiten solchen Papiers, verwendet als »Vorzugs-Briefpapier«. So manche Briefpartnerfreunde fern und nah wissen darum. 

 

Bei manchem Besuch waren erst einmal Briefe zu übersetzen, ehe wir was Schönes an der Marmorierwanne gemacht haben, Post aus aller Welt. Wir machten es eben, so gut wir es brachten. Durch oftmaliges Lesen hatte er die Wünsche und Komplimente schon ungefähr erraten. Einer aus England, ein gewisser Schmoller, der schrieb seine Briefe auf deutsch. Da waren oftmals lukrative Aufträge darunter, also Auftragswünsche, höfliche Anfragen. Hesse ließ sie meist in der Schublade, er scheute inzwischen all die Hudelei der Kostenabwicklung bei der Steuer und sonstigen Behörden. 

Einmal hatte ein Marmorpapier-Verehrer aus Buenos Aires oder bei Buenos Aires den Wunsch geäußert, Papierproben auszutausehen, da kam es nach dem Übersetzen zu einem unvergessenen Wortwechsel mit dem mißtrauisch über seine Brille blickenden Meister. »Liegt das nicht in Amerika, dieses Buenos Aires? Der kriegt nischt!« Und das hatte seine guten Gründe. Vor einigen Monaten hatte einer aus Kalifornien den gleichen Wunsch geäußert, ein Millionär angeblich. Hesse hatte ihm Bogen geschickt, der Amerikaner aber hatte sich nicht revanchiert, obgleich er es versprochen hatte. Da dachte Hesse, die Amerikaner denken wohl, den guten Willen des Marmorierers in Europa kann man ausnützen; er hatte kurzentschlossen die beiden Halbkontinente von der Liste seiner Sympathie gestrichen. Nicht mit Hesse! Vermutlich hatte er den Verdacht, die beiden Amerikaner stecken unter einer Decke. Noch eine Hesse-Anekdote aus so vielen unvergessenen Hesse-Erinnerungen. In seiner letzten Lebenszeit, als er nun »seltenes Handwerk« war und geachtet, hatte man vorgeschlagen, ihm zur Messe im obersten Stockwerk des Buchmessehauses einen Arbeitsplatz einzurichten. Der interessierten Öffentlichkeit sollte einmal ein altes Handwerk des Buchgewerbes vorgeführt werden. Ihn dazu zu überreden, das hat etliche Mühe gekostet, die verschiedenen Seelen in seiner Brust zogen für und wider, am Ende hat er zugesagt. Er war nun Künstler, ein Künstler darf die Öffentlichkeit nicht scheuen. 

Schon am nächsten Tage rief er an, ob ich mal kommen könne. Es sei was. Als er mich am Eingang der Etage abfing, machte er einen ratlosen Eindruck. »Das mach ich hier nich mit! Hätt ich nur nich zugesagt.« Es kam heraus, daß in gewissen Abständen ein Herr an seinen Arbeitsplatz kommt, ein eleganter Herr, und ihn ins Gespräch zu verwikkeln versucht. »Ich tue schon immer so, als ob ich wegen meiner Arbeit, verstehst du; ich spritze auch mal so rum mit der Farbe, aber der geht bloß paar Schritte zurück. Der beobachtet alles.« 

Und wahrhaftig, nach einer halben Stunde erschien er wieder; Hesse versteifte sich gleich in seine Arbeit. Ich konnte ihn leise und unauffällig darüber aufklären, daß es sich bei dem seriös-neugierigen Herrn im dunkelblauen Mantel besten Stoffes, auf den er Farbspritzer riskierte, um einen der berühmtesten Verleger Deutschlands handelt. Der hatte das Marmorpapier schon geliebt und für Bücher verwendet, da waren wir beide noch nicht auf der Welt. Hesse murmelte »Professor Wieland Herzfelde? Das hat er zu mir auch gesagt; aber die hamm doch alle Tricks druff!« 

Tags drauf hat Hesse mir das ihm respektvoll gewidmete Buch »Immergrün« gezeigt und mit Stolz, nun waren alle Sorgen von ihm genommen. »Und ich hab immer extra ganz langsam gemacht; ich hatte gedacht, der ist von der Steuer!« 

Unter den vielen feinen Briefen war auch mal ein feiner aus Berlin, ein Professor Klemke hatte einen Wunsch. »Ist das der, der immer vorne auf dem Magazin … ?« Er war es, ebenderselbe, Hesse hatte schon den richtigen Verdacht gehabt. Er wollte ein Barockschränkchen stilgerecht austapeziert haben, wenn ich mich recht erinnere; da konnte nur einer helfen. Der Name und der Titel beschleunigten übrigens die Erledigung des Auftrages keineswegs. Hesse hatte ausgeprägt plebejische Züge, oder sagen wir, er war sehr skeptisch allen hohen Tieren gegenüber. Das hat mancher Prominenter in der Werkstatt erfahren. Zweckbezogene Komplimente, das lief an ihm ab, Hesse kannte die Farben auf dieser Palette alle schon bis zum Überdruß. 

 

Aber der Professor Klemke, »vorne vom Magazin«, der muß sein Papier erhalten haben und zur Zufriedenheit, denn er ist sogar einmal zu Besuch gekommen in die Werkstatt im Wolffswinkel. Danach zierte ein prächtiges Pastell unter Glas die Werkstatt. Eine Schöne, bekleidet mit nichts als einer Wolke duftiger Blumen ringsumher, ein wahrer Marmorierer-Farben-Regenbogen! »Für Gerhard Hesse dem Meister der Marmorierkunst in Verehrung gemalt von Werner Klemke«. 

Das war das Pracht- und Prunkstück unter den vielen·Auszeichnungen, die damals schon eine ganze Wand einnahmen. Dort hing auch noch eine Perpendikel-Uhr und ein Haussegen. Urkunde neben Urkunde, Auszeichnungen für schönste Bücher. Darauf war er stolz. Kurioserweise stand auch ein altes Klavier in Hesses Alchimisten-Werkstatt, das diente als Ablage, wie der Schreibtisch. Hesse konnte Schifferklavier spielen, er hatte früher bei Hochzeiten aufgespielt, vielleicht konnte er auch Klavier spielen. An der Hintertür, bei den Bürsten und Pinseln und kleinen Besen, an diesen Kleiderrechen, dort hing auch eine ganze Reihe seiner Farbbeutel, ein schöner Anblick. Das waren seine Schätze; auf welch abenteuerlichen Wegen hat er sich manchmal Farben besorgt gegen Bogen. Ich habe ihn Gras auskochen sehen, auch Blätter für ein bestimmtes Grün. Hesse mußte alles ausprobieren, er war der geborene Tüftler. Wie er ja auch sein Werkzeug sich alleine anfertigen mußte; eine Berufssparte mit einem Mitglied, das ist eben eine kuriose Existenzform. 

Da stand auch noch ein schmales hohes Regal, gefüllt mit Farbenbüchsen und Farbengläsem, ein Regenbogen-Arsenal. Und er klagte doch immer, er habe keine Farben. Es empfahl sich aber nicht, ihn auf diesen Widerspruch hinzuweisen, da konnte er eine Geste machen, die besagte: Was verstehst du denn von meinen Farben. Sie meinte zugleich: Man muß immer etwas barmen, sonst hat man schnell mal wirklich keine Farben mehr! Und auf allen Tischen Schalen und Schüsselehen und Teller mit angerührten Farbproben oder angesetzten Farben; da war etliches aus dem Haushalt abgewandert. Eine große blaue Milchkanne, darin holte er die Ochsengalle vom Schlachthof, die war nicht einmal billig, Ochsengalle war ein Treibmittel, das kam in die Farbe; wohl schon im Mittelalter. Und die vielen flachen Stapel Bogen unter geriffelten Eisenplatten, die wurden da gepreßt. Und hoch über allem der Gestellboden mit den trocknenden Bogen. Ein unvergeß1iches Milieu. 

Hinterm Werkstattraum gab es noch ein Papierlager, das war die Schatzkammer, ein schmales, fensterloses Gelaß, die kleine Schiebetür quietschte immer etwas; das war ein glücksbringendes Geräusch. Wer dort mit ihm schöne Bogen aussuchen durfte, der möge sich heute noch glücklich preisen. Wir haben oftmals schöne Bogen ausgesucht. Einzelbogen, Varianten, die in Serien nicht zu gebrauchen waren, Fehlfarben sozusagen. Fehlfarben waren die märchenhaftesten Bogen, die Sammlung konnte wieder aufgestockt werden; Dank sei ihm.

Wie soll man erzählen vom Schicksal des Gerhard Hesse. Krieg und Gefangenschaft nahmen ihm seine Jugend, danach kam die Zeit der Ratlosigkeit. Am besten ist es wohl und am ehrlichsten, gar nicht erst den Versuch zu machen, nachträglich alles schön Ordnung zu bringen: Ende gut, alles gut! Das wäre nach dem Geschmack jener Verantwortungslosen, die gestern die schönen und notwendigen seltenen Handwerke verkommen ließen und sich heute nicht zu lassen wissen vor Förderung seltenen Handwerks. 

Hesse konnte über so viele Jahre hin nicht begreifen, warum er ein Industriebetrieb für Buntpapier sein sollte, ein Gewerbe, denn so wurde er versteuert, daß er am Ende seiner Arbeit für einen Bogen kaum soviel verlangen durfte, wie die Materialien zur Herstellung des Bogens ihn kosteten. 

Mehr als einmal haben wir über seinen »hochachtungsvollen« Anträgen gesessen und über den Ablehnungen »mit sozialistischem Gruß«. Den ganzen »Vorgang« hatte er in einem alten Leitzordner gesammelt. Auf den Drucksteinen haben wir das alles ausgebreitet, auf denen machte seine Frau in ihren freien Stunden die Knitterpapiere und Kleisterpapier; sie arbeitete bei der Post, die Familie mußte doch ernährt werden in Krisenzeiten.

»Sie können mich nicht aus der Gewerberolle nehmen und in die Handwerksrolle schreiben, weil es mich auf der Handwerksrolle nicht gibt! Wenn es mich schon geben würde auf der Rolle, dann könnte ich drauf; dann wäre ich der zweite Fall, dann könnte es mich geben. Dann könnte es mich auch als Meister geben, als Berufsbild. Ich kann mich aber auch nicht selber ausbilden, weil ich kein Berufsbild habe, auch nicht lehrlingsseitig. Da kannste verrückt werden.« 

Das Gesetz zur Förderung des Handwerks konnte nicht zur Anwendung kommen, da er kein Handwerker war; da nützte ihm auch die Anlage 2 zur Ersten Durchführungsbestimmung nichts. »Ich kann von der einen Rolle nicht runter und auf die andere, weil ich nirgends beinhaltet bin! Mich kanns nicht geben, weils mich nicht gibt.« Die Sache war vollständig verknotet; ein Stoff für Franz Kafka. Sagen wir, für Karl Valentin, um charmant zu sein. Und spaßig ist sowas nur für Außenstehende, abgesehen von einer völlig ungerechten Versteuerung bekam Hesse kein Krankengeld, seine Arbeit erwies sich später als stark gesundheitsschädigend. Und da er nichts verdiente, waren seine Rentenansprüche entsprechend. 

 

Da gab es aber keinen Schuldigen zu suchen. Buntpapier machte die Papierindustrie, auf modernen Papiermaschinen; daß Hesse keine moderne Papiermaschine war, dafür konnte man die Sachbearbeiter der Steuer-Administration nicht verantwortlich machen; Hesse war eben ein Relikt der Vergangenheit. Warum wurde er nicht Sachbearbeiter? Sachbearbeiter für Sachbearbeitung, die hatten ein Berufsbild, dayon gabs genügend. Jeder ist seines Glückes Schmied. 

Wie oft mag er später einen Bogen Marmorpapier neben einen aus vergangenen Jahren gelegt und den Kopf geschüttelt haben. Der eine Bogen deckte nicht einmal seine Unkosten, und der neue Bogen kommt um einen bibliophilen Band, vom hohen Stand unserer Buchkunst zeugend. Oder wird gar ein vielbegehrter Exportartikel, denn er stammt aus der Werkstatt des anerkannten Kunsthandwerkers VbK DDR. Und konnte doch kein Mensch einen Unterschied ausmachen zwischen den beiden schönen farbigen Bogen. 

Mitte der sechziger Jahre hat er dann endgültig das Handtuch geworfen, die Werkstatt wurde zugeschlossen. Gerhard Hesse ging als Kraftfahrer, auch als Lackierer. Autos hat er wohl auch repariert, vielleicht nach Feierabend. Die Aufträge aus den USA und aus der Schweiz und aus Österreich, die steckte er in das Fach an seinem Schreibtisch, zu all dem anderen Papierkram. Das meiste konnte er sowieso nicht lesen. 

Beim Begräbnis des Vaters fanden sich viele Menschen ein aus der Buchbranche, Friedrich Hesse war doch ein geachteter Handwerker; da hat man von allen Seiten auf ihn eingeredet, er möge doch die Werkstatt wieder eröffnen. Es hieß auch, man wolle ihm helfen bei den Behörden, aber keiner half. 

Die Zeit hat Hesses vollständig verknotete Angelegenheit aufgeknibbelt, die Zeit, die am Ende alle Knoten aufknibbelt, auch die verknotetsten. Sachte wurde »seltenes Handwerk« Mode, die Verlage drängten nach Papieren von hessescher Qualität. Und eines Tages kam eine Anfrage aus Weimar, aus den »Forschungs- und Gedenkstätten« kam sie, ob er in der Eage sei, eine Tapete zu machen, wie sie zur Goethezeit gemacht worden ist, eine Marmortapete. Hesse wird nicht schlecht gestaunt haben; aber wer sollte sie machen, wenn er sie nicht macht.

Ich habe von diesem repräsentativen und lukrativen und eben ungewöhnlichen Auftrage nur sein Klagen und Stöhnen mitbekommen. »Anderthalbtausend Bogen, anderthalbtausend Bogen, da wirste verrückt!« In mühseliger Probierarbeit mußte erst einmal das Muster nachgeahmt werden, und ehe die Farbzusammensetzungen den Originalproben glichen! Durch Hesses Kunst sitzen die Zuschauer im Liebhabertheater Großkochberg wieder wie zu Zeiten der Frau von Stein. Das war ihr Liebhabertheater; selbst nach zweihundert Jahren steckt hinter jeder Sache eine Frau, man muß nur suchen. In jener Zeit lag einmal eine Tüte Tapetenreste auf seinem Schreibtisch, wochenlang lagen die da, blaßlila Tapete mit einem gelben Muster, die stammten vom Türstock eines Zimmers der Wohnung des Geheimrates Johann Wolfgang von Goethe. Auch hier half der Meister durch seine Kunstfertigkeit, den Originaleindruck des Zimmers wiedererstehen zu lassen. Jene Zeit, als Christiane und der kleine August im Hause herumgelaufen sind, und später Eckermann. Und wir sind dem Leben unseres größten Dichters wieder um einen Deut näher gekommen. 

Von den »Weimarern« sprach Hesse immer mit großem Respekt. Sie hatten ihm nach dem ungewöhnlichen Tapetengroßauftrag für das Liebhabertheater Großkochberg etliches an Anerkennung verschafft; aber an dieser wachsenden Anerkennung waren wohl auch .namhafte Buch-Künstler beteiligt, deren Hochachtung Hesse besaß. Jedenfalls hatte seine Handwerker-Misere ein Ende. Nun durfte ein Bogen Papier aus seiner Werkstatt sehr viel mehr kosten, dafür waren die Steuern geringer; und er war nicht nur Handwerksmeister geworden, er war anerkannter Kunsthandwerker geworden, jetzt gehörte er sogar zum Verband Bildender Künstler VbK (DDR). 

Das war ihm aber nun wieder zu weit oben hinaus. »Die haben mich doch jetzt zu den Künstlern gesteckt«, eröffnete er mir mal, und gar nicht recht glücklich, »was soll ich denn bei den Künstlern?« Aber froh war er schon darüber, wie sich das Blatt gewendet hatte; jetzt war er »seltenes Handwerk«, wie Windmüller und Hutformenbauer und Achatschleifer. Jetzt hatte das Kind einen Namen. 

Und er konnte eine neue Auszeichnung hängen an seine Urkunden-Wand bei der Perpendikel-Uhr. »Gedenkblatt zur Erinnerung an die Wiederherstellung von Schloß und Park Kochberg in den Jahren 1968–1975«. Ein würdig gedruckte Würdigung. Übrigens ist der Name. des Gewürdigten mit der Schreibmaschine hineingetippt, sagen wir, etwas flüchtig. 

Aufträge brachten aber nicht nur gute Einnahmen, sie waren oftmals auch ein psychisches Problem. Als er den prachtvollen grünblauen Pfauenmarmor für die Prachtbände der Maria Sybille Merian machte, eine der schönsten Ausgaben des Edition-Verlages, da konnte er zeitweise nicht mehr weiterarbeiten, weil er innerlich jeden Abstand zum Muster verloren hatte. Er war nach einigen Wochen überzeugt, es müssen an die 5000 oder gar 7000 Bogen zu machen gewesen sein, er war fest überzeugt, völlig falschfarbene Bogen zu machen. Dabei war ein Bogen wie der andere, ja ein Bogen immer schöner als der andere, wenn es nicht widersinnig klingen möchte. »So was mach ich nich nochmal, da wem Sie verrückt!« Zudem war er schon nicht mehr recht gesund, er hatte immer Schmerzen. 

Dieses Bezugspapier für die bibliophile Ausgabe Merian, das war wohl die schönste Arbeit aus Hesses Werkstatt, sie hat ihn weltbekannt gemacht. 

Aber auch in dieser Zeit blieb Hesse natürlich Hesse. »Die wollen immer überall, daß ich erzählen soll, was soll ich-denn erzählen? Daß ich die Farben nich kriege von drüben, devisenmäßig? Wer will denn das hören! Unsere Farben sind ein Dreck fürs Marmorieren; und wie ich damit zurecht komme, das interessiert keinen Schwanz! Wenn das so weitergeht, hör ich wieder um Ich höre wieder uff, denken Sie an meine Worte. Da könn sich die Verlage uff den Kopp stelln!« 

Er rührte Farbpulver in einem Schälchen an und hielt mir ein blaues Hölzchen unter die Nase, ich mußte auch mit ihm in dem blauen Schälchen rühren; ich sah nur blaue Farbschmiere und den erbosten Hesse. 

Oder das Blau hackerte, da riß die Farbe in sich ab, winzige weiße Zerrungen kamen herein. Das konnte an der Farbe liegen, das konnte an den Zusätzen liegen, am Grundier- Öl oder an der Temperatur, auch am Wetter. Manchmal vertrug sich eine Farbe nicht mit einer anderen Farbe. Das ergab einen übelgelaunten Hesse: »Mensch, ich murkse hier schon den ganzen Vormittag rum, das Blau hackert.« Der »Grund« spielte auch manchmal nicht mit, wenn er zu frisch war vor allem, oder das Moos taugte nichts, das brauchte er nur zwischen den Fingern zu zerreiben, schon wußte er, ob es was taugt. Auf einmal aber da ging es, von einer Viertelstunde zur anderen. Vielleicht ein Wetterumschwung. Oder die Göttin der Marmorierkunst wollte wohl, falls die Marmorierkunst eine Göttin kennt. 

Seit Hesse »seltenes Handwerk« war, lösten sich viele Knoten, jetzt durfte er auch Lehrlinge ausbilden, jetzt sollte er das sogar ausdrücklich. Aber der Meister war eigen, was wußte er denn, was er sich auf den Hals lud mit einem Lehrling. Und vermutlich gibts doch eine Marmora oder Marmoria, eine wohlwollende Göttin, denn Tochter Ilona, in einem ganz anderen Beruf ausgebildet, legte den beiseite und wurde Marmoriererin- Lehrling beim Vater. Mit ihr kam Jugend und Schwung in_ die Werkstatt und Charm. Heute ist Ilona Ruckriegel-Hesse selbst Meisterin und führt eine eigene Werkstatt. Ein neues Kapitel ist zu schreiben! 

 

Als der Lehrling sich eingearbeitet hatte an der Marmorierwanne, da wurde es auch für Hesse leichter bei großen Aufträgen. Auch Frau Hesse kam herüber nach der Arbeit bei der Post, mit einer Kanne guten Kaffee kam sie und den Tassen. Und selbergebackenem Kuchen. Da haben wir auch mal ein,e Stunde übers Leben philosophiert und eben über alles; Hesse simulierte gerne, beim Zuhören. Frau Hesse machte inzwischen Kleisterpapiere und Knitterpapiere, das ging wie am Fließband. Da mußten auch Techniken ausgetüftelt werden, ich habe sie mit einem Scheuerhader schöne Muster machen sehen. Und Farbpampen einrühren aus Maizena und Kartoffelmehl. Auch ihre Papiere waren gefragt! Sie hatte keine Zeit zum Simulieren. Sie machte einfarbige Papiere; auch in der Natur ist ja das Männchen meist das buntere Exemplar. 

Er sagte mal unvermittelt: »Meine Frau hat in unseren schlimmen Jahren paarmal zu mir gesagt: Ich zünde mal nachts die Bude an, damit sie abbrennt, damit das mal ein Ende hat! Und der Blick, den sie uns zuwarf, der bestätigte, daß dies keine leeren Worte gewesen waren. Jetzt konnte Hesse darüber lachen. 

Im Grunde seines Herzens war Gerhard Hesse ein seelensguter Mensch: »Ich simuliere auch manchmal nach über so vieles im Leben; das Geschäftliche ist mir immer abgegangen, der Papierkram, der Sinn für den ganzen Papierkram. Und vielleicht war das auch kein schlechter Wille von den‘; die haben doch immer in ihren Akten geblättert, die konnten eben in ihren Paragraphen nischt finden für mich.« 

Übrigens sah er zu keiner Zeit etwas Besonderes in seinem Schicksal; er wußte natürlich, daß er über viele Jahre hin unterschätzt worden war und nun wohl überschätzt; was sollte er anfangen mit prominentem Besuch in seiner Werkstatt. 

Leben war zu keiner Zeit ein geebneter Weg; sein Vater mußte um Aufträge bitten gehen zu den Buchbindereien, sein Handwerk war aus der Mode gekommen. Um Arbeit bitten müssen, das hieß für einen Mindestlohn arbeiten. Das war der Zehnstundentag zur Ernährung der Familie und die fortwährende Scirge, Aufträge könnten ausbleiben. – Da lebte Hesse auf großem Fuße! Als er sein Haus renovierte, hat er den Korridor in Marmor tapeziert, ein eigenes Muster. Bedeutende Leute können exklusive Neigungen haben. Und er machte Krach, wenn es Schwierigkeiten gab mit den Farben, da schalteten die sich ganz oben ein. Der Minister! Zuletzt hatte er sogar Telefon in der Werkstatt, wenn er mal anrief, klang immer etwas wie Verwunderung mit, über so viel technischen Luxus, über so viel Bequemlichkeit. »Hier ist Hesse, Gerhard Hesse … « 

 

In seinen letzten Lebensjahren hatte er sich einen alten Wunsch erfüllt; er hat sich in einer Kammer unterm Dach ein Foto-Labor eingerichtet. Dort experimentierte er als Fotograf, denn wegen unerklärlicher Schmerzen konnte er nur noch stundenweise in der Werkstatt arbeiten. Unter seinen Händen entstanden marmorierte Gratulationskarten, da ging die Marmorierung ins Foto über, oder das Foto in die Marmorierung, man kam nicht drauf, wie er das gemacht hatte. Das freute ihn. Und es war wohl nicht nur das schöne Papier, das uns befreundet hielt über so viele Jahre, es gab da schon Gemeinsames. Überlebenskünstlerfreundschaft. 

Sein Lieblingsbild hat er mir einmal gezeigt, davon hatte er sich Abzüge gemacht. Drei Landstreicher im Frühling, die lehnten an einem Gartenzaun und spielten mit Kasperpuppen Landstreicher und Gendarm. Der Gendarm war der Gefoppte. Gerhard Hesse konnte lachen, wie ein verschmitzter Junge! Was hätte er alles noch gemacht an Schönem, was hätte er nicht alles noch ausprobiert; jetzt, wo die Bedrückungen und Ängste von ihm genommen waren. 

An einem Januartage des Jahres 1983 ist er gestorben. Er hat seinem Tode so ratlos lächelnd gegenüber gestanden wie seinem Leben. Sechzig Jahre ist er alt geworden, dieser Meister seines Handwerks ohne Meisterprüfung, zwei Monate fehlten ihm am sechzigsten Lebensjahre. Seine Sorgen um seine Rente, es waren ganz unnötige Sorgen. 

Sein Grab hat er gefunden, wie sein Leben gewesen war: Eine Urne unterm Rasen des Rosen-Hains auf dem Möckemschen Friedhof. Wer seine Kunst verehrt oder wer ihm zu danken hat, der möge Blumen auf diesen Rasen legen. 

In einer besinnlichen Stunde kann jeder einmal in seinen Bücherbeständen stöbern, ob er Bücher mit Marmorpapier darunter findet, vielleicht ist sogar eins von unserem Meister dabei. Das ist ein beglückendes Unternehmen, eine Entdeckungs-Reise. Marmorpapier ist was fürs Auge! 

Und wer marmorpapiergeschmückte Bücher gefunden hat, der mag nachsinnen dem merkwürdigen Schicksal des berühmten unbekannten Marmorierers Gerhard Hesse aus dem Wolffswinkel.